Die Falsch-Auslegung des Organon durch die heutige Homöopathie
Homöopathie gilt als die „Krone der Therapien“. Eine Krone erstrahlt in Erhabenheit, ist unantastbar und wird angebetet – aber Berühren ist nicht erlaubt.
Dieses, obig genannte Image einer Krone, hat heute die Homöopathie. Sie gilt als Schwierig, kaum zu Lernen, Behandlungsfehler sollen gefährlich sein, kurz und gut: jeder, der die Bereitschaft hat, Verantwortung für seine „Be-Handlungen“ und seine Patienten zu übernehmen, wird die Finger von „dieser Homöopathie“ lassen oder er hat sich mühsam mindestens 20 Jahre durch die Theorie gequält.
Wenn Hahnemann gewußt hätte, was nach seinem Ableben aus seinem Werk gemacht wird, hätte er sich sicher an manchen Stellen seines Organon anders ausgedrückt, eine einheitlichere Sprache gewählt, seine eigene Persönlichkeitsentwicklung nicht nur Abschnittweise, sondern vollständig in seinen einzelnen Organon-Ausgaben integriert.
Obwohl das Organon in Paragraphen verfaßt wurde, ist es absolut nicht eindeutig und unmißverständlich, schon gar nicht als Gesetzbuch aufzufassen.
Wichtige Mißverständnisse bezüglich der Erstverschlimmerung, der Potenzen und der Wirkungstheorie müssen unbedingt aufgedeckt und zur Diskussion gestellt werden.
Erstverschlimmerung & Potenzen
In § 63 bis § 66 Organon, 6. Auflage, beschreibt Hahnemann die Erst- und Gegenwirkung (Nachwirkung).
§ 63 *) „Jede auf das Leben einwirkende Potenz, jede Arznei, stimmt die Lebenskraft mehr oder weniger um, und erregt eine gewisse Befindens-Veränderung im Menschen auf längere oder kürzere Zeit. Man benennt sie mit dem Namen: Erstwirkung. Sie gehört, obgleich ein Product aus Arznei- und Lebenskraft, doch mehr der einwirkenden Potenz an. Dieser Einwirkung bestrebt sich unsere Lebenskraft ihre Energie entgegen zu setzen. Diese Rückwirkung gehört unserer Lebens-Erhaltungs-Kraft an und ist eine automatische Tätigkeit derselben, Nachwirkung oder Gegenwirkung genannt.“
Hier beschreibt Hahnemann die Reaktion auf ein homöopathisches Arzneimittel wie eine Art Trotzreaktion. Es wird etwas angeregt, dann wehrt derjenige sich und dann macht er es doch.
§ 64 *) „Bei der Erstwirkung der künstlichen Krankheitspotenzen (Arzneien) auf unsern gesunden Körper, scheint sich (wie man aus folgenden Beispielen ersieht) diese unsere Lebenskraft bloß empfänglich (receptiv, gleichsam leidend) zu verhalten und so, wie gezwungen, die Eindrücke der von außen einwirkenden, künstlichen Potenz in sich geschehen und dadurch ihr Befinden umändern zu lassen, dann aber sich gleichsam wieder zu ermannen, und dieser in sich aufgenommenen Einwirkung (Erstwirkung)
a)
den gerade entgegengesetzten Befindens-Zustand (Gegenwirkung, Nachwirkung) wo es einen solchen gibt, in gleichem Grade hervorzubringen als die Einwirkung (Erstwirkung) der künstlich krank machenden, oder arzneilichen Potenz auf sie gewesen war und zwar nach dem Maße ihrer eigenen Energie – oder,
b)
wo es einen der Erstwirkung gerade entgegengesetzten Zustand in der Natur nicht gibt, scheint sie sich zu bestreben, ihr Übergewicht geltend zu machen durch Auslöschen der von außen (durch die Arznei) in ihr bewirkten Veränderung, an deren Stelle sie ihre Norm wieder einsetzt (Nachwirkung, Heilwirkung).“
Hier beschreibt Hahnemann wiederum eine Trotzreaktion. Hierbei stellt er in a) fest, daß nicht alle Stoffe eine Trotzreaktion auslösen und ganz wichtig, daß die Potenz im „Maße ihrer eigenen Energie“ eine Gegenwirkung auslöst.
Dazu ist zu klären, was nach Hahnemann’s Erfahrung diesen Energiemaßstab ausmacht. Man könnte verstehen, daß eine Arznei in einer hohen Potenz, z. B. eine C 50.000, eine hohe, also rasante, auffällige, gewaltige Gegenreaktion auslöst. Damit wäre es tatsächlich gefährlich, eine Hochpotenz einer Arznei, die Trotz erzeugt (Erstwirkung – Gegenwirkung) einzusetzen.
Mehr Stoff – mehr Gegenreaktion
Die praktische Erfahrung ist aber ganz anders. Eine Niederpotenz macht viel intensivere Erst- und Gegenreaktionen als eine Hochpotenz. Daß Hahnemann diese Erfahrungen auch gemacht hat, entdecken wir in § 65.
In § 64 b) beschreibt er, daß die Arzneien, welche keine Gegenreaktionen produzieren, ihr Übergewicht geltend machen … anders ausgedrückt, daß die Reaktion der Arznei eine „Art von Manipulation“ bewirkt, die erstaunlicherweise eine Heilwirkung haben soll.
Um Hahnemann an dieser Stelle zu begreifen, ist es nötig, sich umfassende Gedanken über die Wirkungstheorie der Homöopathie zu machen, die Hahnemann an mehreren Stellen des Organon auch unterschiedlich beschreibt. Näheres hierzu wird im Teil „Wirkungstheorie“ angeführt.
§ 65 *) „Beispiele von a) liegen jedermann vor Augen. Eine in heißem Wasser gebadete Hand ist zwar anfänglich viel wärmer als die andere, ungebadete Hand (Erstwirkung), aber von dem heißen Wasser entfernt und gänzlich wieder abgetrocknet, wird sie nach einiger Zeit kalt und bald viel kälter, als die andere (Nachwirkung). Den von heftiger Leibesbewegung Erhitzten (Erstwirkung) befällt hinterher Frost und Schauder (Nachwirkung). Dem gestern durch viel Wein Erhitzten (Erstwirkung) ist heute jedes Lüftchen zu kalt (Gegenwirkung des Organisms, Nachwirkung). Ein in das kälteste Wasser lange getauchter Arm ist zwar anfänglich weit blässer und kälter (Erstwirkung) als der andere, aber vom kalten Wasser entfernt und abgetrocknet, wird er nachgehends nicht nur wärmer, als der andere, sondern sogar heiß, roth und entzündet (Nachwirkung, Gegenwirkung der Lebenskraft). Auf starken Kaffee erfolgt Uebermunterkeit (Erstwirkung), aber hintennach bleibt lange Trägheit und Schläfrigkeit zurück (Gegenwirkung, Nachwirkung), wenn diese nicht immer wieder durch neues Kaffeetrinken (palliativ, auf kurze Zeit) hinweggenommen wird. Auf von Mohnsaft erzeugten, tiefen Betäubungs-Schlaf (Erstwirkung) wird die nachfolgende Nacht desto schlafloser (Gegenwirkung, Nachwirkung). Nach der durch Mohnsaft erzeugten Leibesverstopfung (Erstwirkung) erfolgt Durchfälligkeit (Nachwirkung) und nach dem mit Darm erregenden Arzneien bewirkten Purgiren (Erstwirkung) erfolgt mehrtägige Leibverstopfung und Hartleibigkeit (Nachwirkung). Und so wird überall auf jede Erstwirkung einer, das Befinden des gesunden Körpers stark umändernden Potenz in großer Gabe, stets das gerade Gegentheil (wo, wie gesagt, es wirklich ein Solches giebt) durch unsere Lebenskraft in der Nachwirkung zu Wege gebracht.“
In § 65 gibt Hahnemann etliche Beispiele für Erst- und Gegenreaktion bei der Einnahme von Stoffen in Urtinktur. Interessant wird seine Aussage in den letzten Zeilen, wo er darauf hinweist, daß Potenzen in großer Gabe eine starke Gegenreaktion hervorrufen.
An dieser Stelle wird deutlich, daß Hahnemann unter „großer Gabe“ eine stoffliche Potenz oder überhaupt den Stoff selbst in Urtinktur damit bezeichnet. Folglich muß die „kleine Gabe“ eine stärkere Verdünnung (Hochpotenz) darstellen.
§ 66 *) „Eine auffallende, entgegengesetzte Nachwirkung ist aber begreiflicher Weise nicht bei Einwirkung ganz kleiner homöopathischer Gaben der umstimmenden Potenzen im gesunden Körper wahrzunehmen. Ein wenig von diesem Allen, bringt zwar eine, bei gehöriger Aufmerksamkeit wahrnehmbare Erstwirkung hervor; aber der lebende Organism macht dafür auch nur so viel Gegenwirkung (Nachwirkung), als zur Wiederherstellung des normalen Zustandes erforderlich ist.“
Hier sagt Hahnemann deutlich: je höher die Potenz der gegebenen Arznei, desto geringer (oder sogar fehlend) ist die Gegenreaktion.
Ist die Potenz hoch genug gewählt, gibt es keine Erstverschlimmerung! In Hahnemanns Organon ist „kleine Gabe“ immer als Hochpotenz zu verstehen!
Weitere Indizien zu diesen Resultaten finden sich u. a. an folgenden Textstellen: § 39 Fußnote 1, § 155 und § 157
Reaktionen bei Hochpotenzen
Der praktizierende Homöopath erlebt aber, daß der Patient nach Gaben von Hochpotenzen auch mit Symptomen reagiert. Folglich ist zu klären, worum es sich dabei handelt, wenn es nicht Gegenwirkung, Nachwirkung = Erstverschlimmerung ist.
Setzen wir voraus, daß jedes homöopathische Mittel ein Spiegel einer Lebenssituation ist, Lebenssituationen aber miteinander verknüpft sind. Spricht der Homöopath mit der Gabe einer homöopathischen Arznei in Hochpotenz ein Thema an, reagiert der Patient sofort (oft in nur wenigen Minuten) mit Symptomen. Diese Symptome beschreiben nun eine Lebenssituation, die mit der Information der gegebenen Arznei verknüpft ist.
Beispiel:
Eine junge Dame wird plötzlich von ihrem Lebensgefährten verlassen.
- Dieses Faktum beinhaltet den Schreck des Verlassenseins
- und gleichzeitig den Kummer darüber
- und gleichzeitig versucht sie sofort die Rolle zu spielen, in der sie ihr Lebensgefährte gesehen hätte.
Folgende Arzneien und deren psychologische Bedeutung (nach Antonie Peppler) sind für diese Themen zuständig:
-
Aconitum napellus = „negativ Denken um des Selbstschutzes willen“
-
Natrium muriaticum = „Kummer, festhalten an Altem“
-
Lachesis muta = „Unterdrückung der Individualität“
Wird diese Damen von einem Homöopathen behandelt, wird eines dieser Arzneien mit seinem Symptombild bei der Patientin zu finden sein. Bekommt die Patientin nun z. B. Natrium muriaticum, dann werden sofort die Symptome von Aconitum napellus deutlich, welches ebenso zu dem Erlebniskomplex gehört.
Wird die Reaktion des Patienten als Erstverschlimmerung verstanden, nimmt er sich die Chance, das zentrale Thema und die damit vorhandenen Verkettungen des Patienten aufzulösen. Ist sich der Homöopath über die verketteten Themen des Patienten im Klaren – eine exakte Repertorisation mit dem Computer zeigt die Themen deutlich – ist es durchaus hilfreich, die Mittel auch in einer Hochpotenz gleichzeitig zu geben. Das gesamte Krankheits-Syndrom des Patienten – entsprechend zusammenhängender, gemachter Erfahrungen – wird sofort aufgelöst.
Sind sämtliche Verkettungen berücksichtigt, ist der Patient innerhalb kürzester Zeit geheilt. Homöopathie ist nicht von Zeit abhängig!
Hahnemann’s Wirkungstheorie
In § 64 und auch in anderen Paragraphen spricht Hahnemann von:
- künstlich krankmachenden oder arzneilichen Potenzen
- die Einwirkung der künstlich krankmachenden oder arzneilichen Potenz
Daraufhin ist zu klären, was Hahnemann an einer homöopathischen Potenz als „künstlich“ bezeichnet. Ist er der Meinung, dass:
- die homöopathische Arznei ein Fremdkörper sei
- oder die homöopathische Arznei etwas in Resonanz bringt, also etwas anscheinend fremdes von außen in den Körper hineingebracht wird und dort als etwas bekanntes erkannt wird?
Darf Homöopathie ein Fremdkörper sein?
Es ist schwer vorstellbar, daß etwas Fremdes eine Heilung bewirken kann. Eine Manipulation – auch etwas Fremdes – wird zwar ein anderes Erscheinungsbild bewirken, muß aber, wie wir es aus der Schulmedizin kennen, ständig und auch immer stärker eingesetzt werden, um seinen manipulativen Charakter beizubehalten. Hahnemann bezeichnet diesen manipulativen Vorgang als „Palliativum“.
Wenn die Arznei ein Fremdkörper wäre, gäbe der Homöopath diesen Fremdkörper in den Patienten hinein und müßte warten, was daraus entsteht. Ein Fremdkörper ist unberechenbar, daher ist es sicherer, einen „kleinen“ Fremdkörper zu benutzen (Niederpotenz), damit das Unberechenbare nicht zu katastrophal wird.
Dieser zweifelhaften Theorie folgen die meisten Homöopathen heute.
Wird Homöopathie als Resonanztherapie verstanden, dann schwingt die homöopathische Arznei eine nicht bewältigte (bewertete) Situation an. Die Arznei wirkt wie ein Spiegel.
Ist eine Resonanz zum Thema der Arznei vorhanden, wird der Patient offensichtlich nochmals in die bisher nicht bewältigte Lebenssituation hineingeführt – er kann sie nochmals sehen und erleben – kann aber mit den heutigen, vielleicht reiferen Erfahrungen die Situation neu bewerten. Bei Neugeborenen wird diese Thematik entweder aus den Erfahrungen der Vorfahren abgeleitet oder, wer diese Sichtweise bevorzugt, aus dem Reinkarnationsgedanken.
Homöopathie als Resonanztherapie ist ungefährlich
Denn nur die Themen, welche in Resonanz treten, also vorhanden sind, sind krankhafte Themen, die ohnehin nochmals bearbeitet werden wollen.
Jeder Patient reagiert seinen unbewußten Erfahrungen gemäß auf die gegebene homöopathische Arznei. Dies gilt auch für Arzneimittelprüfungen. Je nachdem, was der Proband „in seinem inneren Spiegel reflektiert“, wird er als Symptomenbild nach außen bringen. Dies ist auch die Erklärung dafür, daß verschiedene Probanden unterschiedliche Symptome produzieren.
Arzneien psychologisch deuten – nicht symptomatisch
Arzneimittelprüfungen werden gewöhnlich in Niederpotenzen bis C 30 durchgeführt. Dabei erscheinen viele körperliche Symptome, die dann eine Deutung benötigen, um das Thema der Arznei zu finden. Eine Arzneimittelprüfung beschränkt sich meistens auf das Finden von Symptomen.
Erst in jüngster Zeit gewinnen die psychologischen Themen der homöopathischen Arzneien, gelegentlich auch Essenzen genannt, an Bedeutung.
Fazit
An diesen wenigen Beispielen wird deutlich, daß Samuel Hahnemann „seine“ Homöopathie möglicherweise doch anders gemeint und betrieben hat, wie es ihm heute in den Mund gelegt wird. Anhand der Patientenfälle Hahnemann’s, die mehr und mehr veröffentlicht werden, kann man die tatsächliche Arbeitsweise besser nachvollziehen als an dem 6-mal veränderten Paragraphenwerk „Organon“. Hierzu seien die Krankenjournale von Samuel Hahnemann zum weiteren Studium empfohlen.
Außer den bisher dargelegten Themen gäbe es eine Vielzahl weiterer Textstellen des Organon, die analytisch und synergetisch betrachtet werden müssen. In den von mir geleiteten Studiengängen wird hierauf seit vielen Jahren konkret eingegangen. Eine komplette Analyse des Organon bzw. der 6 Organon-Ausgaben würde an dieser Stelle natürlich den Rahmen sprengen.
Dieser Artikel möge dazu beitragen, die Homöopathie in ihren grandiosen Möglichkeiten wahrzunehmen und um ein vielfaches hilfreicher einzusetzen, als dies üblicherweise der Fall ist.
Antonie Peppler
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*) Quellen:
Hahnemann, Samuel „Organon der rationellen Heilkunde“ 1. Auflage, 1810 in der Arnoldischen Buchhandlung
Hahnemann, Samuel „Organon der Heilkunst“ 2. Auflage, 1819 in der Arnoldischen Buchhandlung
Hahnemann, Samuel „Organon der Heilkunst“ 3. Auflage, 1824 in der Arnoldischen Buchhandlung
Hahnemann, Samuel „Organon der Heilkunst“ 4. Auflage, 1829 in der Arnoldischen Buchhandlung
Hahnemann, Samuel „Organon der Heilkunst“ 5. Auflage, 1833 in der Arnoldischen Buchhandlung
Hahnemann, Samuel „Organon original, Organon der Heilkunst“ 6. Auflage, Barthel & Barthel Verlag
Hahnemann, Samuel „Krankenjournal D 2, 1801 – 1802“, Karl F. Haug Verlag
Hahnemann, Samuel „Krankenjournal D 3, 1802“, Karl F. Haug Verlag
Hahnemann, Samuel „Krankenjournal D 4, 1802 – 1803“, Karl F. Haug Verlag
Hahnemann, Samuel „Krankenjournal D 5, 1803 – 1806“, Karl F. Haug Verlag
Hahnemann, Samuel „Krankenjournal DF 5, 1837 – 1842“, Karl F. Haug Verlag